Narziss und Goldmund von Hermann Hesse ist ein weiteres Buch, dem ich mit einer Rezension nicht gerecht werden könnte. Thomas Mann hätte das vielleicht gekonnt [und an dieser Stelle sagt mir Google doch tatsächlich, dass er das sogar getan hat], aber ich werde mich daran erst gar nicht versuchen.
In Büchern markiere ich mir diejenigen Seiten, die ich für bemerkenswert halte. In Narziß und Goldmund sind es über 30. Und um diese in Zukunft schneller zitieren zu können, stelle ich diese Textstelle hier online.
“Gewiß”, sprach Narziß weiter. “Die Naturen von deiner Art, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben …”
“Welche Eigenschaft in dir, außer der Gelehrsamkeit, ist es wohl, die in diesem Glauben zu Wort kommt?”
- “Es ist die Eigenschaft”, sagte Narziß langsam, “daß ich ein Gefühl für die Art und Bestimmung der Menschen habe, nicht nur für meine eigene, auch für die der andern. Diese Eigenschaft zwingt mich, den andern dadurch zu dienen, daß ich sie beherrsche. Wäre ich nicht zum Klosterleben geboren, so würde ich Richter oder Staatsmann werden müssen.”Wenn er daran dachte, wieviel einfacher, friedlicher und bequemer es für einen Vorsteher sei, Durchschnittsmenschen statt großer und starker Naturen zu regieren, so mußte er zugleich seufzen und lächeln.
Dies, dachte er träumerisch, war einer der Nachteile der Schule und der Gelehrsamkeit: es schien eine der Tendenzen des Geistes zu sein, alles so zu sehen und darzustellen, als ob es flach wäre und nur zwei Dimensionen hätte. Irgendwie schien ihm damit ein Mangel und Unwert des ganzen Verstandeswesens bezeichnet, doch vermochte er den Gedanken nicht festzuhalten, die Schnecke entglitt seinen Fingern, er fühlte sich müde und schläfrig.
Wenn ihm das beschieden wäre, dachte er, dann würde er versuchen, ein Tier zu werden, ein Bär oder HIrsch, sei es auch unter Verzicht auf die ewige Seligkeit. Ein Bär zu sein und eine Bärin zu lieben, das wäre nicht schlecht und wäre zumindest sehr viel besser, als seine Vernunft und Sprache und all das zu behalten und damit allein und traurig und ungeliebt dahinzuleben.
“Du bist so hübsch und siehst so heiter aus. Aber in deinen Augen innen ist keine Heiterkeit, da ist lauter Trauer; wie wenn deine Augen wüßten, daß es kein Glück gibt und daß alles Schöne und Geliebte nicht lange bei uns bleibt. Du hast die schönsten Augen, die es geben kann, und die traurigsten. Ich glaube, das ist, weil du heimatlos bist.”
Aber vergessen war es doch nicht, nur überstanden, nur vorübergegangen. Etwas blieb zurück, nicht auszusprechen, etwas Schreckliches und auch Wertvolles, etwas Versunkenes und doch nie zu Vergessendes, eine Erfahrung, ein Geschmack auf der Zunge, ein Ring ums Herz.
Vielleicht, dachte er, ist die Wurzel aller Kunst und vielleicht auch alles Geistes die Furcht vor dem Tode. [...] Mit Trauer sehen wir immer wieder die Blumen welken und die Blätter fallen und spüren im eigenen Herzen die Gewißtheit, daß auch wir vergänglich sind und bald verwlken. Wenn wir nun als Künstler Bilder schaffen oder als Denker Gesetze suchen und Gedanken formulieren, so tun wir es, um doch irgend etwas aus dem großen Totentanz zu retten, etwas hinzustellen, was längere Dauer hat als wir selbst.
Nichts sahen sie, diese Menschen, nichts wußten und merkten sie, nichts sprach zu ihnen! Einerlei, ob da ein armes holdes Tier vor ihren Augen verreckte oder ob ein Meister in einem Heiligengesicht alle Hoffnung, allen Adel, alles Leid und alle dunkle schnürende Angst des Menschenlebens zum Erschauern sichtbar machte – nichts sahen sie, nichts ergriff sie! Alle waren sie vergnügt oder beschäftigt, hatten es wichtig, hatten es eilig, schrien, lachten und rülpsten einander an, machten Lärm, machten Witze, zeterten wegen zwei Pfennigen, und allen war es wohl, sie waren alle in Ordnung und höchlich mit sich und der Welt zufrieden. Schweine waren sie, ach viel schlimmer und wüster als Schweine! Nun ja, er selber war oft genug mitten unter ihnen gewesen, hatte sich froh unter ihresgleichen gefühlt, war den Mädchen nachgetrieben, hatte vom Teller lachend und ohne Grausen gebackene Fische gegessen. Aber immer wieder hatte ihn, oft ganz plötzlich wie durch Zauber, die Freude und Ruhe verlassen, immer wieder war dieser fette feiste Wahn von ihm abgefallen, diese Selbstzufriedenheit, Wichtigkeit und faule Seelenruhe, und es hatte ihn hinweggerissen, in die Einsamkeit und ins Grübeln, auf die Wanderschaft, zur Betrachtung des Leides, des Todes, der Zweifelhaftigkeit alles Treibens, zum Starren in den Abgrund. Manchmal war ihm dann aus der hoffnungslosen Hingabe an den Anblick des Sinnlosen und Furchtbaren plötzlich eine Freude aufgeblüht, eine heftige Verliebtheit, die Lust, ein schönes Lied zu singen oder zu zeichnen, oder im Riechen an einer Blume, im Spielen mit einer Katze war ihm das kindliche Einverstandensein mit dem Leben wieder zurückgekehrt.
Schon war der Blitz wieder erloschen, das geheimnisvolle Muttergesicht verschwunden. Aber tief zuckte sein fahles Leuchten in Goldmunds Seele fort, eine Woge von Leben, von Schmerz, von würgender Sehnsucht lief aufwühlend durch sein Herz. Nein, nein, er wollte das Glück und die Sattheit der andern nicht, der Fischkäufer, der Bürger, der geschäftigen Leute.
Und wenn man von hier aus durch das strömende, kristallfädige Wasser hinabschaute auf den dunklen undeutlichen Grund, dann sah man hier und dort irgend etwas mit gedämpftem Goldglanz aufblinken und verlockend glitzern, unerkennbare Dinge, vielleicht eine alte Tellerscherbe oder eine weggeworfene verbogene Sichel oder einen lichten glatten Stein oder glasierten Ziegel, manchmal auch mochte es ein Schlammfisch sein, eine feiste Trüsche oder ein Rotauge, das sich da unten umdrehte und einen Augenblick auf den hellen Bauchflossen und Schuppen einen Lichtstrahl auffing – niemals konnte man genau erkennen, was es eigentlich sei, immer aber war es zauberhaft schön und verlockend, dies kurze gedämpfte Aufblinken versunkener Goldschätze im nassen schwarzen Grunde. So wie dies kleine Wassergeheimnis, schien ihm, waren alle echten Geheimnisse, alle wirklichen, echten Bilder der Seele: sie hatten keinen Umriß, sie hatten keine Form, sie ließen sie nur wie eine ferne schöne Möglichkeit ahnen, sie waren verschleiert und vieldeutig.
Und plötzlich schien es ihm unendlich dumm und häßlich, diesen ganzen mechanischen Ablauf oft erlebter Dinge wieder hervorzurufen und seine Rolle darin zu spielen, die Wurst in Empfang zu nehmen, die kräftigen Brüste sich an ihn drängen zu fühlen und sie wie zum Gegengeschenk ein wenig zu drücken. Plötzlich meinte er in ihrem guten derben Gesicht einen Zug von entseelter Gewohnheit, in ihrem freundlichen Lächeln etwas allzuoft Gesehenes, etwas Mechanisches und Geheimnisloses, etwas seiner Unwürdiges zu sehen. Er beschrieb den gewohnten Wink mit der Hand nicht zu Ende, auf seinem Gesicht erfror das Lächeln. Liebte er sie denn noch, begehrte er sie noch ernstlich? Nein, allzuoft schon war er hier gewesen, allzuoft hatte er dies immer gleiche Lächeln gesehen und ohne Herzensantrieb erwidert. Was er gestern noch unbedenklich gekonnt hätte, war ihm heut plötzlich nicht mehr möglich.
Er ging gespannt und düster durch das Todesland, furchtbar angezogen vom Anblick des großen Sterbens, die Seele voll vom großen Herbst, das Herz schwer vom Lied der mähenden Sense. Manchmal erschien ihm das Bild der ewigen Mutter wieder, ein bleiches Riesengesicht mit Medusenaugen, mit einem schweren Lächeln voll Leid und Tod.
“Ich will aber nicht wieder fort”, klagte sie, “und will dich nicht fortlassen, nein. Man kann doch nicht froh sein, wenn man weiß, daß schon bald alles wieder aus und vorbei sein soll!” Nochmals gab Goldmund Antwort, freundlich, aber mit einem verborgenen Klang von Drohung in der Stimme: “Darüber, kleine Lene, haben sich schon alle Weisen und Heiligen den Kopf zerbrochen. Es gibt kein Glück, das lange dauert. Wenn dir aber das, was wir jetzt haben, nicht gut genug ist und nicht mehr Freude macht, dann zünde ich noch in dieser Stunde die Hütte an, und jeder von uns geht seiner Wege. Laß es gut sein, Lene, es ist genug gesprochen.” Dabei blieb es, und sie ergab sich, aber ein Schatten war auf ihre Freude gefallen.
“Lieber Gott, warum hast du uns so geschaffen, warum führst du uns solche Wege? Sind wir nicht deine Kinder? Ist nicht dein Sohn für uns gestorben? Gibt es nicht Heilige und Engel, uns zu leiten? Oder sind das alles hübsche erfundene Geschichten, die man den Kindern erzählt und über die die Pfaffen selber lachen? Ich bin irr an dir geworden, Gottvater, du hast die Welt übel geschaffen, schlecht hältst du sie in Ordnung. Ich habe Häuser und Gassen voll von Toten liegen sehen, ich habe gesehen, wie die Reichen sich in ihren Häusern verschanzt haben oder geflohen sind und wie die Armen ihre Brüder unbegraben haben liegenlassen, wie sie einer den andern verdächtigt und die Juden wie Vieh totgeschlagen haben. Ich habe so viele Unschuldige leiden und untergehen sehen und so viele Böse im Wohlleben schwimmen. Hast du uns denn ganz vergessen und verlassen, ist dir deine Schöpfung ganz entleidet, willst du uns alle zugrunde gehen lassen?”
Ach, und es hatte dies ganze Leben doch nur dann einen Sinn, wenn beides sich erringen ließ, wenn das Leben nicht durch dies dürre Entweder-Oder gespalten war! Schaffen, ohne dafür den Preis des Lebens zu bezahlen! Leben, ohne doch auf den Adel des Schöpfertums zu verzichten! War denn das nicht möglich? Vielleicht gab es Menschen, denen es möglich war. Vielleicht gab es Ehemänner und Familienväter, denen über der Treue nicht die Sinnenlust verlorenging? Vielleicht gab es Seßhafte, denen der Mangel an Freiheit und an Gefahr das Herz nicht eindorren ließ? Vielleicht. Gesehen hatte er noch keinen.
“Die Mystiker sind, kurz und etwas grob gesagt, jene Denker, welche nicht von den Vorstellungen loskommen können, also überhaupt keine Denker sind. Sie sind heimliche Künstler: Poeten ohne Verse, Maler ohne Pinsel, Musiker ohne Töne. Es sind höchst begabte und edle Geister unter ihnen, aber sie sind alle ohne Ausnahme unglückliche Menschen. So einer hättest auch du werden können. Statt dessen bist du, Gott sei Dank, ein Künstler geworden und hast dich der Bilderwelt bemächtigt, wo du ein Schöpfer und Herr sein kannst, statt als Denker im Unzulänglichen steckenzubleiben.”
“Unser Denken ist ein beständiges Abstrahieren, ein Wegsehen vom Sinnlichen, ein Versuch am Bau einer rein geistigen Welt. Du aber nimmst gerade das Unbeständigste und Sterblichste ans Herz und verkündest den Sinn der Welt gerade im Vergänglichen. Du siehst nicht davon weg, du gibst dich ihm hin, und durch deine Hingabe wird es zum Höchsten, zum Gleichnis des Ewigen. Wir Denker suchen uns Gott zu nähern, indem wir die Welt von ihm abziehen. Du näherst dich ihm, indem du seine Schöpfung liebst und nochmals erschaffst. Beides ist Menschenwerk und unzulänglich, aber die Kunst ist unschuldiger.”
- “Ich weiß nicht, Narziß. Aber mit dem Leben fertig zu werden, die Verzweiflung abzuwehren, das scheint euch Denkern und Theologen doch besser zu gelingen. Ich beneide dich längst nicht mehr um deine Wissenschaft, mein Freund, aber ich beneide dich um deine Ruhe, um deinen Gleichmut, um deinen Frieden.”
“Du solltest mich nicht beneiden, Goldmund. Es gibt keinen Frieden, so, wie du es meinst. [...] Es gibt nur einen Frieden, der immer und immer wieder mit unablässigem Kämpfen erstritten wird und von Tag zu Tag neu erstritten werden muß. Du siehst mich nicht streiten, du kennst weder meine Kämpfe beim Studium, noch kennst du meine Kämpfe in der Betzelle. Es ist gut, daß du sie nicht kennst. Du siehst nur, daß ich weniger als du Launen unterworfen bin, das hältst du für Frieden. Es ist aber Kampf, es ist Kampf und Opfer wie jedes rechte Leben, wie das deine auch.”